Z i t a t e : V

 

Eine klassische gesetzgeberische Beschreibung dessen, was Jugendarbeit sei, bietet die Anlage zum Jugendpflegeerlaß des preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 18. Januar 1911:

"Grundsätze und Ratschläge für Jugendpflege

1. Aufgabe der Jugendpflege ist die Mitarbeit an der Heranbildung einer frohen, körperlich leistungsfähigen, sittlich tüchtigen, von Gemeinsinn und Gottesfurcht, Heimat- und Vaterlandsliebe erfüllten Jugend. Sie will die Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und der Kirche, der Dienst- und Lehrherren unterstützen, ergänzen und weiterführen.

2. Zur Mitwirkung bei der Jugendpflege sind alle berufen, welche ein Herz für die Jugend haben und deren Erziehung im vaterländischen Geiste zu fördern bereit und in der Lage sind.

3. Die erforderlichen Mittel werden von Freunden und Gönnern der Jugend, von den Gemeinden, Kreisen usw. und ergänzungsweise vom Staat gewährt. Im Hinblick auf die große Bedeutung der Sache für die Zukunft unseres Volkes ist zu erwarten, daß die Zahl der hochherzigen Stiftungen für diesen Zweck mehr und mehr wächst.

4. Die Pflege an der schulentlassenen Jugend umfaßt das Alter vom 14. bis etwa zum 20. Lebensjahre. Dabei werden die jüngeren 3 Jahrgänge von den 3 älteren, wo es notwendig und möglich ist, getrennt; doch ist dann die Mitarbeit von geeigneten Mitgliedern der älteren Abteilung in der jüngeren anzustreben.

5. Die Besonderheit der Pflege für die schulentlassene Jugend wird einerseits durch das zu erreichende Ziel, andererseits durch sorgsame Berücksichtigung der Eigenart, der Bedürfnisse und der jeweils besonderen Verhältnisse der heranwachsenden Jugend bestimmt. Von wesentlichem Einfluß auf die Wahl der Mittel ist der Umstand, daß Zwang für die Teilnahme an den Veranstaltungen nicht möglich ist.

6. Junge Leute, die Tag für Tag in anstrengender Arbeit stehen, haben für ihre Freizeit das naturgemäße Verlangen nach Unterhaltung und Freude. Der der heranwachsenden Jugend ohnehin eigentümliche Freizeitdrang läßt den Wunsch nach Selbstbestimmung in der Freizeit besonders stark hervortreten. Vielfach zeigt sich als Rückwirkung des Zwangs, den die Berufsarbeit tagsüber auferlegt hat, am Feierabend die Neigung, sich in unge- bundener Weise zu ergehen. Die Art der Arbeit, bei der viele oft nur noch ein kurzes Stück des Weges vom Rohmaterial zum fertigen Erzeugnis überschauen, erschwerte häufig das Aufkommen der rechten Freudigkeit an der Arbeit. Dadurch trägt sie neben anderen Umständen, insonderheit der häufig vorhandenen Abgeschlossenheit von der freien Gottesnatur, nicht selten dazu bei, daß das Gemüt der jungen Leute verarmt. Es kommt hinzu, daß die Entfremdung weiter Kreise von der Kirche vielen Jugendlichen auch die im Gottesdienst dargebotenen Quellen der Erhebung des Geistes und zur sittlichen Stärkung verschließt.
Zur Befriedigung des bei der großen Mehrzahl vorhandenen Hungers nach geistiger Anregung fehlt es oft an gesunder Nahrung, zur Pflege besonderer Neigungen und Anlagen meist an Ort und Zeit. Wahllos greift der gar nicht oder schlecht beratene Jugendliche nach jedem Lesestoff und erleidet an Geist und Herz durch schlechte Lektüre oft schweren Schaden. Die Entwicklung anderer wird nachteilig beeinflußt durch den Mangel eines auch nur einigermaßen freundlichen Heimes, die Gefahr des Straßen- lebens, durch Langeweile, durch Verführung des Alkohols, durch Entbehrung zweckmäßiger Leibesübungen in frischer Luft usw.

7. Demnach kommen als Mittel der Jugendpflege in Frage und haben sich als solche zumeist schon gut bewährt:
Bereitstellung von Räumen zur Einrichtung von Jugendheimen zu Sammlung der Jugend in der arbeitsfreien Zeit und der Darbietung von Schreib-, Lese-, Spiel- und anderen Erholungsangelegenheiten.
Gründung von Jugendbüchereien; Einrichtung von Musik-, Gesangs-, Lese- und Vortragsabenden, von Aufführungen mit verteilten Rollen, überhaupt Gewährung von Gelegenheiten zu edler Geselligkeit und Unterhaltung.
Ausnutzung der volkstümlichen Bildungsgelegenheiten eines Ortes, wie Museen und dergl., unter sachverständiger Führung Besuch von Denkmälern, geschichtlich, erd- kundlich, naturkundlich, landwirtschaftlich usw. sehenswerten Örtlichkeiten.
Bereitstellung von Werkstätten für Handfertigkeitsunterricht und dergl.
Bereitstellung von Spielplätzen und bedeckten Räumen für Leibesübungen. Bei etwa erforderlicher Neuanlage solcher einfach zu haltenden Räumen ist darauf Bedacht zu nehmen, sie so einzurichten, daß sie mangels sonst geeigneter Unterkunft zugleich als Jugendheime, als Räume zu Vorträgen, Volksunterhaltungsabenden, Aufführungen und dergl. benutzt werden können.
Schaffung möglichst unentgeltlicher Möglichkeiten zum Baden, Schwimmen, Schlittschuh- laufen.
Verbreitung gesunder Leibesübungen aller Art je nach Jahreszeit, Ort und Gelegenheit. Neben Turnen, volkstümlichen Übungen, Bewegungsspielen und Wanderungen ist gegebenenfalls Schwimmen, Eislaufen, Rodeln, Schneeschuhlaufen u.a. zu empfehlen. Besondere Pflege ist den einer Landschaft etwa eigentümlichen Spielen und Leibes- übungen zu widmen, wie überhaupt jede Gelegenheit zur Pflege der Heimatliebe zu verwerten ist.

8. Die Aufzählung der vorstehend genannten Mittel und als wünschenswert bezeichneten Einrichtungen soll nicht bedeuten, daß dies alles erst beschafft oder bereitgestellt werden müsse, ehe mit der Pflege der schulentlassenen Jugend begonnen werden könne. Wo Leiter oder Leiterinnen mit einigem Geschick und mit Liebe zur Sache und zur Jugend vorhanden sind, und von einem tatkräftigen und umsichtigen Ortsausschuß unterstützt werden, wird in der Regel sofort mit irgend einem Zweige der Jugendpflege begonnen werden können. Es erhöht für die beteiligte Jugend den Reiz der Sache und ist von großem erzieherischen Werte, wenn sie selbst nach Möglichkeit zu dem Ausbau der Einrichtungen beitragen und an ihrer Verwaltung selbständig mitwirken kann.

9. Die Ausführung der Jugendpflege darf nicht in einer Weise erfolgen, daß sie lediglich oder doch in der Hauptsache auf bloße Vergnügung der Jugend hinauskommt. Zwar ist auch damit schon viel gewonnen, wenn die Jugend an edleren Freuden Geschmack gewinnt. Zugleich aber ist überall mit Sorgfalt, wenn auch ohne nach außen irgendwelches Aufsehen davon zu machen, die Pflege so zu gestalten, daß der Jugend bei aller Rücksicht auf ihr berechtigtes Verlangen nach Freude ein dauernder Gewinn für Leib und Seele zuteil wird.

10. Wie dies beispielsweise beim Betrieb von Leibesübungen zu geschehen hat, darüber werden in der Anleitung für das Knabenturnen zahlreiche Winke gegeben, die auch für die schulentlassene Jugend Beachtung verdienen. Bezüglich der Wanderung heißt es z.B.:
"Diese sollen vor allem zum bewußten Sehen erziehen, einen frischen, fröhlichen Sinn wecken, Freude an der Natur, an der Heimat und an der Kameradschaft gewähren und Ausdauer verleihen.
Daneben ist z.B. auf der Rast zum Fernsehen, zum Schätzen von Entfernungen und der auf die Wanderung verwendete Zeit, zum Zurechtfinden im Gelände und zur Beurteilung des letzteren anzuleiten.
Gelegentlicher frischer Gesang von Turn-, Wander- und Vaterlandsliedern erhöht die Freude und Ausdauer der Teilnehmer."
An derselben Stelle sind zugleich größere Bewegungsspiele angegeben und beschrieben, die auf Wanderungen in Betracht kommen können.- Wichtig ist es, wie im Schulleben, so besonders auch hier, daß die Ausführung von Wanderfahrten einfach und billig geschieht.
Im übrigen empfiehlt es sich dringend, die Fortbildungskurse fortzusetzen, durch welche bisher schon Tausende von Personen, darunter auch nicht dem Lehrerstande angehörige, mit dem Ziele ausgebildet worden sind, daß sie gesunde Leibesübungen anregend und in einer die Gesundheit, Kraft und Gewandtheit entwickelnden Weise zu leiten und sie zugleich zu einer wirksamen Schule des Willens und Charaktere sowie vaterländischer Gesinnung zu machen verstehen.

11. Vor eine schwierige, aber auch dankbare pädagogische Aufgabe werden Lehrer, Ärzte, Geistliche, Richter und Anwälte, Landwirte, Gewerbetreibenden, Ingenieure, Offiziere sowie überhaupt alle diejenigen gestellt, welche an der Jugendpflege durch Halten von Vorträgen, durch Leitung von freien Aussprachen und dergl. mitarbeiten wollen.
Es kommt darauf an, die Stoffe so auszuwählen, daß sie den Bedürfnissen der Jugend entsprechen, sie anziehen und zugleich geistig und sittlich fördern.
In Frage kommen bürgerkundliche Stoffe, ferner solche aus der Religion, der Natur-, der Erd- und Menschenkunde, dann Geschichte usw. Namentlich sind auch solche vorzuführen, welche geeignet sind, der Jugend den Sinn ihrer eigenen Arbeit und die Bedeutung und Notwendigkeit der mannigfachen Berufe für das große Ganze zu erschließen.
Anziehend bei richtiger Behandlung und von großer erzieherischer Wirkung sind Darstellungen des Heldentums auf den verschiedenen Gebieten, des schlichten Heldentums einer in ihrem Berufe auch aufopfernden Krankenpflegerin nicht minder als des Heldentums des einzelnen Soldaten oder des Generals, die ihre Treue mit ihrem Blut besiegeln.
Aus der Kulturgeschichte sind solche Einzelbilder von besonderem Werte, aus denen ungesucht der Segen in die Augen springt, der von der Arbeit Einzelner für die Gesamt- heit ausgegangen ist.
Es versteht sich von selbst, daß die Zubereitung der Stoffe dem geistigen Stande der Hörer tunlichst anzupassen ist. Nicht immer wird es möglich sein, über einen Gegenstand gleichzeitig vor jüngeren und älteren, vor männlichen und weiblichen Hörern zu reden. Letzteres gilt namentlich für die Besprechung mancher Fragen aus der Gesundheitslehre.

12. Zu einer aufbauenden Einwirkung auf die schulentlassene Jugend bedarf es neben der zielbewußten Gewöhnung und Übung vor allem auch der Erweckung eines selbsttätigen Interesses der Jugend für die Zwecke der zu ihren Gunsten getroffenen Veranstaltungen, bedarf es mannigfacher Gelegenheit zu eigener, tunlichst selbständiger Betätigung innerhalb und zum Besten der Jugendvereinigung.

13. Demgemäß empfiehlt es sich, der Jugend möglichst weitgehenden Anteil an der Leitung der Vereine zu geben und ihr allerlei Ämter im Vereinsleben zu übertragen.

14. Zum Selbstanfertigen von Spielgeräten und anderen Gebrauchsgegenständen für die Zwecke der Vereinigung ist anzuleiten und durch Anerkennung des Geleisteten weitere Anregung zu geben.

15. Das Interesse an der Vereinigung wird erhöht, wenn ihre Mitglieder einen auch noch so geringen Beitrag zu zahlen haben.

16. Nach den örtlichen Verhältnissen richtet es sich, ob und wieweit die Veranstaltungen zur Jugendpflege an schon bestehende Vereine anzugliedern oder ob neue Vereinigungen zu schaffen sind. Jedenfalls ist eine Zersplitterung der Kräfte und Mittel zu vermeiden.

17. Wo die Einrichtung neuer Jugendvereinigungen erforderlich scheint, kommen neben anderen bewährten Formen auch Vereine in Frage, welche sich in Anlehnung an Fortbildungsschulen oder Volks- und Mittelschulen bilden. Geeignete Lehrer, welche sich an der Arbeit beteiligen und sich des besonderen Vertrauens der Jugend erfreuen, sind, wenn irgend möglich, an der betreffenden Schule zu beschäftigen. An Volks- und Mittelschulen empfiehlt es sich, diesen Lehrern wenigstens einige Stunden auf der Oberstufe der Schule zu übertragen, weil dadurch der freiwillige Anschluß der abgehen- den Schüler und Schülerinnen an den Verein (Klub) der betreffenden Schule sich am leichtesten und sichersten vollzieht.
Die erforderlichen Räume werden gegebenenfalls im Schulgebäude für die nötige Zeit zur Verfügung gestellt, namentlich auch Spielplatz, Turnhalle, Badeanstalt usw.
Die Leistung erfolgt nach den zu 12 bis 15 aufgezählten Grundsätzen. Innerhalb des Vereins (Klubs) wird die Bildung kleinerer Gruppen zur Pflege besonderer Neigungen z.B. zur Pflege der Musik, der Kurzschrift, der Lektüre usw. gern gestattet.
Zur Unterhaltung dienen u.a. Tischspiele, auch Gelegenheit zum Schreiben ist zu geben. Einen gute Jugendbücherei versorgt die Mitglieder mit Lesestoff.

18. Es wird anzustreben sein, namentlich für Sonnabendabend sowie Sonntagnachmittag und -abend die jungen Leute zu geeigneten Veranstaltungen heranzuziehen.

19. Um das Interesse der Eltern, Lehrherren und weiterer Kreise für die Jugendpflege wachzuhalten, empfiehlt sich die Abhaltung von Familienabenden, an denen sich die Jugend durch Darbietung beteiligt, Veranstaltung von Turn- und Spielvorführungen und dergl. mehr.

20. Die vorstehende Aufzählung macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Welche Formen im einzelnen anzuwenden sein werden, hängt von den jedesmal gegebenen besonderen Umständen und von den vorhandenen Mitteln ab. Die Erfahrung wird ergeben, welche Formen besonders erfolgreich und welche weniger wirksam sind. Aber überall wird es sich bestätigen, daß das Geheimnis des Erfolgs in den an der Lösung der Aufgabe arbeitenden Persönlichkeiten liegt, in ihrer umsichtigen und opferwilligen Tätigkeit, in ihrer Geduld und Treue, in ihrer Liebe zur Jugend und zum Vaterland."

Dieser Erlaß, der mit einem beachtlichen Fonds von 1 Mio. Reichsmark ausgestattet war, sollte die vielfältigen Aktivitäten der bürgerliche Jugendbewegung kanalisieren und kontrollieren und vor allem die Arbeiterjugendbewegung unterdrücken. "Für die Entscheidung darüber, ob und wieweit Privatvereinigungen usw. bei ihren Jugendpflegebemühungen zu unterstützen sind, kommt weder Religion (Konfession), noch die politische Stellung ihrer Mitglieder in Betracht. Selbstverständliche Voraussetzung ist aber, daß diese Vereinigungen auf staatserhaltendem Boden stehen." (Grundsätze über die Verwendung der Mittel des Jugendpflegefonds vom 22. April 1913)
 
 

Am 30.4.1913 wird der preußische Jugendpflegeerlaß von 1911 ergänzt:

"Maßgebend hierfür war die Erkenntnis, daß auch die Pflege der weiblichen schulentlassenen Jugend einer weiteren Ausdehnung und Vertiefung dringend bedarf. Wer ein körperlich und sittlich starkes, gottesfürchtiges, königs- und vaterlandstreues Geschlecht heranbilden will, muß auch dafür sorgen helfen, daß die weibliche Jugend an Leib und Seele gesund, innerlich gefestigt und mit dem Wissen und Können ausgerüstet wird, das für ihren zukünftigen Beruf als Gehilfinnen des Mannes, als Erzieherinnen der Kinder, als Pflegerinnen des Familienglücks, als Trägerinnen und Hüterinnen guter Sitte unentbehrlich ist."
 
 



 

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