(wichern)
Menschen statt Mauern
zur Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe

 

Schlägt man in den letzten Tagen die Zeitung auf oder hört aufmerksam auf die Lokalnachrichten, so kommt man nicht umhin von Einrichtungen und Häusern zu lesen oder zu hören, die sich insbesondere den kriminell gewordenen Jugendlichen zuwenden sollen.

In geschützten oder teilweise geschlossenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sollen zeitweise junge Menschen vor der Gesellschaft und möglicherweise auch vor sich selbst weggeschlossen werden. Besonders Jugendrichter erwarten von den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe solche geschlossenen Häuser als Alternative zur Untersuchungshaft, damit das Entweichen und die Wiederholung von Straftaten verhindert werden kann.

Die polizeiliche Kriminalstatistik weist aus, daß lediglich nur bei sieben bis neun Prozent aller Jugendlichen als Tatverdächtige ermittelt wird; hiervon unter ein Prozent wegen Gewaltdelikten. Dieses bedeutet im Umkehrschluß, daß über 90 % aller jungen Menschen nicht mit der Polizei in Berührung kommen und somit auch nicht als Tatverdächtige oder kriminell gefährdet eingestuft werden können.

In diesem Jahr gedenkt die Kirche einem der Väter der Diakonie: Johann Hinrich Wichern, dem Begründer des Rauhen Hauses in Hamburg und vergleichbarer Rettungshäuser an anderen Orten für verwahrloste und kriminell gewordene Jungen und Mädchen.

Betrachtet man die soziale Situation der Kinder und Jugendlichen in den wachsenden Großstädten Mitte des vorigen Jahrhunderts, so drängt sich der Vergleich auf, daß es auch vor 150 Jahren Kinder und Jugendliche gab, die durch Kriminalität, Gewalt und Verwahrlosung das Miteinander der Bürger empfindlich störten. Wichern gründete damals mit großem bürgerlichen Engagement und vielfacher Unterstützung aus Politik, Kirche und Wirtschaft seine Rettungshäuser als Gegenentwurf zu den Gefängnissen und "Korrektionsanstalten" in einer familienähnlichen Struktur, dem ein Hausvater vorstand.

Die pädagogischen Grundsätze dieser Rettungshäuser sind bis heute Leitidee für Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.

 

Die aktuelle Diskussion um die "Wiedereinführung" der geschlossenen Unterbringung, oder in anderen Zusammenhängen verschleiernd "geschützte Unterbringung" oder "verbindlicher Aufenthalt" genannt, ist dazu angetan, einmal bei Wichern nachzulesen, wie er das Verhältnis von Freiheit, Strafe und Erziehung beurteilt und ob seine Erkenntnisse nicht auch heute anzuwenden sind.

Bedenkt man zudem, daß bis Mitte der siebziger Jahre dieses Jahrhunderts in den alten Bundesländer solche Einrichtungen auch in kirchlicher Trägerschaft bestanden haben und in der DDR die sogenannten Jugendwerkhöfe die letzte Station vor dem Jugendstrafvollzug waren, wird es um so dringender einmal nach den Wurzeln der Jugendhilfe zu fragen, damit man nicht heute wider besseren Wissens, pädagogische Irrwege begeht.

Was ist nun in einer pädagogischen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe erlaubt; gehört Strafe dazu? Wichern schreibt 1868 in seiner Schrift "Rettungsanstalten als Erziehungshäuser": "Aus dem Prinzip der Familie heraus ergibt sich aber auch zugleich, daß die in einem Rettungshause verhängten Strafen keine anderen sein dürfen, als wie sie für gewöhnlich .... in einer jeden Familie vorkommen und von den Eltern geübt werden können und dürfen. Wo also in einem Rettungshause wie in einer Korrektionsanstalt Handschellen, Fußfesseln, in Blöcke spannen u. dgl. vorkäme, würde das Rettungshaus seinen Charakter als solches verleugnen und eine Korrektionsanstalt werden."

In jeder guten Familie ist die Liebe zu den Kindern das Richtmaß aller Erziehung. Dieses wußte Wichern und er weiste seine Diakone und Hausväter an, wie gute und liebende Familienväter (die sie auch immer zugleich waren) zu handeln und ggf. auch einmal konsequent NEIN zu sagen und angemessen zu strafen. Gewaltanwendung, Demütigung durch Unfreiheit und Kränkung war in Rettungshäusern verboten. Er schreibt 1841 in "Pädagogik für das Rauhe Haus": "Auf dem erziehlichen Gebiete läßt sich aber, wie auf dem juristischen, kein Gefängnis einrichten ... "Nun wußte auch schon Wichern, daß viele Kinder und Jugendlichen weglaufen und sich seinem "erziehlichen" Ansinnen gegenüber zeitweise versperren. Er beschreibt in seiner Schrift "Strafgewalt und Disziplin", 1868 einen Jungen, der viele Male aus dem Rauhen Hause entwichen ist und "...in Elend stürzt, friert, hungert und elender lebt als ein Tier ...", dem weder Psychologie noch alle Strafen geändert haben. "Die dauernde Zurückweisung eines solchen Kindes wäre Unrecht. Im Gegenteil - ein solches Benehmen zeigt nur um so gewissenhafter, in welchem Maß ein solches Kind eines Rettungshauses bedarf. Ja, in Fällen wie dem genannten bleibt zuletzt nichts übrig, als sich zu freuen, und alles freut sich auch wirklich mit, wenn ein Deserteur wiederkehrt. Die Kameraden selbst bilden vielleicht dann zusammen um ihn eine lebendige Mauer und nehmen den Unglücklichen in Liebe doppelt herzlich in ihre Mitte und tun, was die Erwachsenen nicht können, um ihn zu helfen und ihn zu retten."

Betrachtet man heute die Diskussion um die Wiedereinführung der geschlossenen Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe so fällt auf, daß die Verhinderung der Entweichung eines durch richterlichen Beschluß eingewiesene Jugendlichen, vor allen pädagogischen Maßnahmen oberste Priorität hat. Doch wirklich ausbruchssicher, wie ein Gefängnis, können diese Häuser nicht sein.

Die bisherigen Erfahrungen aus den Jugendwerkhöfen der DDR hat deutlich gezeigt: Wer in den offenen Häusern abgehauen ist, versuchte dieses in den geschlossenen Einrichtungen um so mehr. Professor Dr. Christian von Wolffersdorf (Universität Leipzig) resümierte vor Kurzem in einer Fachzeitschrift: "Je größer der Aufwand an baulichen, personellen, gar elektronischen Sicherheitsvorkehrungen, desto größer die sportliche Herausforderung, all diese Vorrichtungen zu überwinden - am liebsten dort, wo es am schwierigsten ist." (KJuG 2/98)

Wichern macht in seinen Schriften hingegen deutlich, daß wenn die Entweichungssicherung oberste Priorität hat, "erziehliches" Wirken seinen Charakter verliert und rät von daher eher zu einer menschlichen Mauer.

Noch eine Überlegung gibt es in diesem Zusammenhang: Schon jetzt gibt es in einigen Heimen eine begrenzte Anzahl von speziellen Plätzen, die für schwierige Fälle eingerichtet wurden. Jugendrichter machen verstärkt davon Gebrauch, anstelle einer U-Haft-Anordnung, die tatverdächtigen Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen einzuweisen. Hier kann es eine ganz spezielle Betreuung geben, so daß die gefährdeten jungen Menschen tatsächlich von einer menschlichen Mauer umgeben sind. Nur wird in diesen Heimen keiner mit Gewalt gehindert, diese auch zu verlassen.

Aber Probleme bereiten den Jugendhilfeträgern und der Polizei nicht diejenigen tatverdächtigen jungen Menschen, die sich in die Heime der Erziehungshilfe integrieren lassen, sonder diejenigen, die sich jeglicher Erziehung gegenüber versagen.

Bei der Wiedereinführung der geschlossenen Heime liegt noch eine weitere Gefahr nahe, denn viele "Normalheime" könnten die geschlossenen Häuser als Ermutigung betrachten, ihre Problemfälle dorthin abzugeben: Wenn es nun doch endlich solche Anstalten gibt, die speziell ausgestattet eine Flucht zu verhindern - was spricht dann noch dafür, weiter nach aufwendigen und vor allem teuren integrativen Lösungen zu suchen? Ist die Wiedereinführung der geschlossenen Einrichtungen das Eingeständnis pädagogischer Ohnmacht?

Wichern schreibt an einer anderen Stelle (Verhältnis der Rettungshäuser zum Staate): "Eine falsche Verbindung mit den Staats- und Kommunalbehörden bringt das Rettungshaus fast unvermeidlich in die Gefahr, irgendwie den Schein einer Straf- oder Korrektionsanstalt anzunehmen, ja sogar irgendeine Modifikation derselben zu werden; dadurch entsteht die Gefahr, in den Zöglingen das Gefühl zu erwecken, nicht freie Kinder einer freien Familie, sondern Züchtlinge, die vom Gesetz im Zaum gehalten werden sollen, zu sein."

Wollen die freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe weiterhin ihre pädagogische Unabhängigkeit und Eigenständigkeit behalten ist hier z.Z. wirklich Vorsicht geboten. Im Jugendgerichtsgesetz heißt es dazu eindeutig, daß, wenn ein Jugendrichter die Einweisung in einem Heim anordnet, nach den Grundsätzen der Jugendhilfe gehandelt werden muß. Und diese sehen nun mal keinen Verschluß von Jugendlichen vor.

Auf dem Hintergrund Wicherns gibt es auch heute Alternativen: Da wo Gefängnis notwendig ist und eine Fluchtgefahr die Wiederholung einer Straftat immer wieder wahrscheinlich macht, sollte zukünftig auch

U-Haft angeordnet werden. Junge Menschen die ständig kriminell werden sollten auch mit der Konsequenz staatlicher Macht rechnen müssen.

Erziehliches Bemühen im Sinne Wicherns ist keine Absichtsbekundung und hat auch keine legitimatorische Funktion als letzte Station vor dem Gefängnis. Erziehung ist vielmehr der Prozeß, einen gefährdeten Menschen in Beziehung zu verwickeln, nach Unterstützung im sozialen Umfeld zu suchen, Möglichkeiten zu kreativen Ortswechseln zu finden, Kooperationen mit anderen Diensten zu suchen und nicht zu letzt auch Sinngebung für ein neuen Leben.

Noch einmal zum Schluß Wichern aus den Berichten des Rettungshauses Michaelshof, Rostock zwischen 1845 und 1850:

"Mit welchen Mitteln wurde nun solchem Verderben entgegengetreten? .... Dem Prinzip der Freiheit, welches entschieden festgehalten wird, steht dasjenige strenger Beaufsichtigung zur Seite, aber dieses geht aus der Lebensgemeinschaft hervor, in welcher Hausvater und Gehülfen mit den Kindern stehen.

Vielleicht sollten die kirchlichen Träger der Jugendhilfe und die evangelischen Fachhochschulen einen Diskussionsprozeß darüber in Gang setzten, welche Alternativen es von den Wurzeln der Väter der Diakonie aus heute gibt, und was einer Wiedereinführung dieser Einrichtungen entgegenzusetzen ist.


back